Der Orgelbauer Aristide CAVAILLÉ-COLL (1811-1899) stattete 1846 die 1842 geweihte Église de la Sainte-Madeleine in Paris mit der Orgel aus, die noch heute optisch und klanglich das monumentale Schiff dieser Kirche bereichert, untergebracht in einem flachen Gehäuse italienischen Renaissance-Stils aus teilweise vergoldetem Holz. Der freistehende Spieltisch ist im Stile der Prospektarchitektur gestaltet; seine vier Manuale waren ursprünglich (vor der Elektrifizierung) bekrönt vom Firmenschild mit der Aufschrift:
Cavaillé-Coll Père et Fils
Facteurs d'orgues du Roi
1846
Die noch in seiner ersten großen Orgel (Abbaye de St-Denis, III/P/69, 1841) realisierte 'klassische' Klangkonzeption mit Prinzipalchorstimmen, zahlreichen Einzelaliquoten,
Cornetten und Mixturen in Grand-orgue/ Bombarde und Positif sowie dem Ravalement der Zungenstimmen im Pedal wandelte sich entscheidend mit dem Bau der Orgel der Madeleine zu der Möglichkeit progressiver und homogener orchestraler
Verschmelzung. Hierfür sorgten vermehrte Einzelregister gleicher Tonhöhe23, zahlreiche überblasende Flöten, Koppeln aller Manuale, octaves graves in Grand-orgue und Bombardes, brillante Zungenensembles (Trompettes
16',8',8',4' im Bombardes-Manual), Generaltutti. Ursprünglich gar war kein einziges Cornet vorhanden!
Die Werkaufteilung weist dennoch zurück in die Epoche des klassischen französischen Orgelbaus; der
Zungenchor, der in späteren Orgeln im Grand-orgue disponiert ist, findet sich im koppelbaren III. Bombardes -Manual (16',8',[8'],4'); Grand-orgue hat die 8'-Zungen Trompette und Cor anglais. Cavaillé-Coll
hatte hierfür auch nicht realisierte Trompettes en chamade 8' und 4' vorgesehen. Das Récit, zwar schwellbar, ist noch "vorsymphonisch” dem IV.Manual zugeordnet, machte 1846 weniger als 20% der
Gesamtregisterzahl aus (in späteren Orgeln Cavaillé-Colls würde es sich als "zweites Grand-orgue” bis zu einem Drittelanteil emanzipieren).
Im Positif befand sich zu Beginn anstelle des klassischen Cromorne ein
Basson-Hautbois 8', das heute mit Musette 8' aus dem Récit den Platz getauscht hat. Die damals innovative Streicherschwebung Voix céleste II 8' steht in der Madeleine-Orgel seit jeher im nicht schwellbaren Positif;
1971 hat Danion-Gonzalez mit der Einrichtung einer Bourdon-Schwebung im Récit expressif (Bourdon céleste 8') hier auf dem Gesamtplan ergänzend eingegriffen.
Der Orgelbauer Roethinger/Boisseau versah schon 1956/57 das
III.Manual mit einer "neoklassischen” Fourniture IV sowie Cornet III, das Récit expressif mit Prestant 4' sowie Cymbale III, und erweiterte darin auch mutmaßlicherweise die aus Bombardes entfernte Trompette
harmonique 8' um 12 Baßtöne zu "Bombarde” 16'. 1971 elektrifizierte Danion-Gonzalez Spiel- und Registertraktur, erweiterte den Manualumfang von 54 auf 56 Töne und den des Pedals von 25 auf 32, fügte Flûte
4' dem Pédale hinzu sowie Larigot 1 1/3' und Plein-jeu IV dem Récit, neben der bereits erwähnten Schwebung. Auch erhielt Grand-orgue das bis dahin fehlende Cornet V. Bernard Dargassies, dem die Betreuung der Orgel
gegenwärtig anvertraut ist, führte 1988 eine erneute Generalüberholung durch.
Die Organisten der La Madeleine
Seit ihrer Weihe 1846 erklang die Orgel der Madeleine unter den Händen vieler überwiegend bedeutender
MusikerInnen, die das Amt des organiste titulaire resp. des organiste suppléant innehatten. Auf A.Ch. FESSY folgte bereits 1847 L.J.A. LEFÉBURE-WÉLY, dessen Kompositionen den Geist der benachbarten Opéra-Comique atmen, die aber
laut Camille SAINT-SAËNS, der 1857 sein Nachfolger wurde, die Qualität seiner Improvisationen verschleiern. Mit SAINT-SAËNS hielt "ein ernster, strenger Musiker” auf der Empore der Madeleine Einzug, wie er selber
ironisch bemerkt: "...et l'on avait fait croire au public que je jouais continuellement des fugues; si bien qu' une jeune fille, en passe de se marier, vint me supplier de ne pas en jouer à sa messe de
mariage.”24 SAINT-SAËNS beklagte die Geringschätzung der Improvisation: "Sous prétexte qu'une improvisation ne saurait valoir les chefs-d'oeuvre des Sébastien Bach, des Mendelssohn, on en a détourné les
jeunes organistes.[...] c'est tout simplement la négation de l'éloquence.”
Franz LISZT, Widmungsträger der bekannten Dritten Symphonie für Orgel und Orchester, war häufig Gast SAINT-SAËNS' in La
Madeleine.
Théodore DUBOIS, der sich dabei gegen César FRANCK durchgesetzt hatte, löste SAINT-SAËNS 1877 ab und blieb bis 1896 im Organistenamt der Madeleine, als er Direktor des Pariser Konservatoriums wurde. DUBOIS hat
zahlreiche Orgelwerke fast ausschließlich liturgischer Bestimmung hinterlassen, darunter den populären Marche des Rois Mages und eine Toccata. Der als Komponist berühmte Gabriel FAURÉ , sein Nachfolger an der Madeleine, sollte
keine Orgelkompositionen hinterlassen. Henri DALLIER war Titularorganist von 1905 bis 1934. In dessen Amtszeit gab Charles-Marie WIDOR am 13.I.1928 zum Abschluß der Restaurierung der Madeleine-Orgel durch Charles MUTIN die
Uraufführung seiner 'Suite latine'. DALLIERs Nachfolger Édouard MIGNAN wirkte bis 1962, als die Orgeltribüne der Madeleine in Jeanne DEMESSIEUX, Schülerin von Marcel DUPRÉ, eine legendäre Organistin empfing, die auf
ihren Tourneen durch ganz Europa und dreimal in die USA triumphalen Ruhm erntete. In der Madeleine-Kirche spielte sie u.a. das Gesamtwerk César FRANCKS auf Schallplatte ein und begeisterte allsonntäglich mit ihren
Gottesdienstimprovisationen. DUPRÉ gestand einmal, daß er bei Jeanne DEMESSIEUX ebenso Lehrer wie auch Schüler gewesen sei. Nach dem Tode der DEMESSIEUX 1968 folgte ihr Odile PIERRE im Amte nach, die ebenfalls bei DUPRÉ
studierte und eine bedeutende Karriere als Konzertorganistin und Pädagogin führt. Sie verließ die Madeleine 1979. Seit jenem Jahr heißt der 'titulaire' François-Henri HOUBART, Schüler u.a. von Pierre
COCHEREAU.
Unter den zahlreichen Stellvertretern der Titularorganisten sind Charles-Marie WIDOR (der schulebildende spätere Organist von Saint-Sulpice), Eugène GIGOUT und Nadia BOULANGER hervorzuheben.
Disposition:
Die Geschichte der Cavaillé-Coll-Orgel der Madeleine in Paris
von Thorsten Bödecker (aus dem Booklet zur CD Visite à Madeleine, Peter Ewers spielt Improvisationen)
Grand-Orgue |
Positif |
Bombardes |
Récit expressif |
Pédale |
Montre 16' |
Montre 8' |
Soubasse 16' |
Flûte harmonique 8' |
Quintaton 32' |
Accouplements: Pos/GO, Rec/GO, Bom/GO, Rec/Pos, Rec/Bom, Bom/Pos, Rec/GO en 4', Bom/GO en 16', Rec en 4', Rec en 16' Suppression Rec en 8'; Tirasses: GO, Pos, Rec, Bom; Tirasses en 4': GO, Pos, Bom, Rec |
||||
Spielhilfen: Appel Anches GO, Pos, Bom, Rec, Ped; Tutti Pleins-Jeux, Tutti général, Crescendo des jeux; Combinateur: 15 x 16 combinaisons |
"A dream came true when I was able to record my second improvisation-CD at a real Cavaillé-Coll, the wonderful instrument at La Madeleine, Paris.
Two nights, because in
the day the metro is mumbling and recording is impossible, a set of improvisations was recorded. At the end of the first session, 4:30: From the nave, directly at the recording equipment with the unerring display of the residual
length of the DAT-tape, my already irritated partner is shouting: „8 minutes left... (until this DAT-tape would be at its end and so the first night's recording session).
I was not thoroughly contented with my recording,
which in a way I'm never. But nonetheless this annoyed me, what was the meaning, 8 minutes left?
Emotional drive
With a share of frowardness or anger I sat down at the console and spontaneously played a
„Dityrambe", a toccata with the ambitus of the 2nd Messiaen-mode, wherewith I literally unleashed myself against this outward pressure (8 minutes) and against the rage within, because the first night did not work out
properly.
„Now I don't care anymore! „Now more than ever! became two powerful emotional drives for the music."
(Excerpt from „Just play! Invitation to improvisation; german version at
http://peter-ewers.eu/flipbooks/ewers_einfach-spielen/ewers_einfach-spielen/ewers-einfach-spielen.html)
"Ein Traum ging für mich in Erfüllung, als ich meine zweite Impro-CD an einer richtigen Cavaillé-Coll aufnehmen
konnte, dem wunderschönen Instrument in La Madeleine, Paris.
In zwei Nächten, tagsüber fährt die Metro und macht Aufnahmen unmöglich, wurden eine Reihe von Improvisationen aufgenommen. Ende der ersten Aufnahme-Nacht, 4:30
Uhr: Aus dem Kirchenschiff, direkt vor dem Aufnahmeequipment mit unbestechlicher Anzeige der noch verbleibenden Restlänge des DAT-Bandes, ruft mir meine schon genervte Partnerin zu: „Noch acht Minuten... (bis dieses DAT-Band zu
Ende sein würde und damit auch die Aufnahmesession der ersten Nacht).
Ich war nicht wirklich mit meinen Aufnahmen zufrieden, was ich eigentlich nie bin. Aber geärgert hat mich das schon, was soll das heißen, noch acht
Minuten?
Emotionaler Antrieb
Mit einer Portion Trotz oder Wut im Bauch setzte ich mich an die Orgel und spielte spontan ein „Dityrambe, eine Toccata mit dem Tonvorrat des 2. Messiaen-Modus, mit der ich mich regelrecht
„entfesselt" habe gegen diesen äußeren Zwang (8 Minuten) und gegen diese Wut im Bauch, daß scheinbar die erste Nacht nicht so richtig funktioniert hatte. „Bald ist mir das doch alles egal! und „Jetzt erst recht!
wurden zwei starke emotionale Antriebe für die Musik.
Probieren Sie aus, sich selbst mit einer starken Emotion anzutreiben. Häufig schafft das bei aller „ernsthaften" Beschäftigung mit der Improvisation eine
emotionale Offenheit und Wachheit, die wirklich Berge versetzt.
Ich gebe gern zu, daß so eine Cavaillé-Coll das eigene Spiel wirklich befeuern kann. Aber es gibt auch den genau entgegengesetzen Effekt, daß eine Orgel Ihre
Ideen absaugt, und für Sie äußerst wichtig ist, daß Sie über einen (im Anfang noch notierten) Plot verfügen.
Der obige Plot des erwähnten „Dityrambe ist äußerst simpel und es ist auch nur eine ganz schwache
Entwicklung eines thematischen Materials wahrnehmbar, wenn überhaupt.
Dafür ist die emotionale Wirkung (dem guten Aristide sei Dank!) weitaus höher und vielleicht gerade aufgrund des emotionalen Antriebs für manche
inspirierend."
(Auszug aus "Einfach spielen! Anstiftung zur Improvisation", online lesen unter
http://peter-ewers.eu/flipbooks/ewers_einfach-spielen/ewers_einfach-spielen/ewers-einfach-spielen.html)
"Dithyrambe" is a track on the CD Ewers, Peter: UM-20061 Visite à la Madeleine. Peter Ewers plays
Improvisations
"Carillon", "Portique", "Petite Cantilène", "Toccata" sur un thème du 16ème siècle, Noël varié sur "Dies est laetitiae, "En pensant à Leonard
Bernstein", "Hymne", "Grand-Choeur", "Caprice", "Visite de M.Lefébure-Wély", "Suite Pascale" (Lumen Christi, Alleluia à la mémoire de Louis Vierne, Grand Offertoire,
Antienne, Final), "Epitaphe", "Dithyrambe"
Peter Ewers (*1963) spielt an der Orgel der Madeleine in Paris; DDD; Booklet: 32 Seiten (deutsch/english/français), 6 Abbildungen; Gesamtspieldauer: 61 min 22 s
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